Spuren – ´Slady
Ein Gespräch mit Yvette Thormann über Dimensionen von Zeit und Leben
Liebe Frau Thormann, Ihre aktuelle Buchveröffentlichung behandelt das Thema jüdischen Lebens an der mittleren Oder. Wie kam es zu dieser Arbeit und wie erging es Ihnen mit der Recherche?
Die Idee kam von einem früheren Auftraggeber, Ernst Herzog. Vor einigen Jahren war ich für ihn im östlichen Brandenburg und auf der polnischen Seite der Oder unterwegs. Für seine Kulturbrücke über die Oder habe ich damals Konzerte und die Region dokumentiert und hatte abschließend eine Fotoausstellung in einem Kloster, ein wunderbarer Ort dafür. In meinen Bildern versuchte ich, die Schönheit der Gegend zu zeigen.
Was meinen Sie mit "Schönheit"?
Schon damals war ich sehr angetan von der Landschaft – Oder- und Warthebruch sind einzigartig! Aber ich war auch bewegt durch eine ganz besondere Stimmung, einem Gefühl, dass Verschwundenes doch anwesend ist und die Geschichte so viel umgewälzt hat. Kaum jemand stammte ursprünglich von hier. Fast immer kamen die Menschen, die dort leben, früher oder später auf ihre Familiengeschichte zu sprechen, auf ihre Herkunft. Ältere Menschen, die wir trafen, hatten oft noch eigene Erinnerungen an Vertreibungen und Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg, jüngere berichteten von ihren Eltern oder Großeltern, die völlig neu anfangen mussten, entweder im äußersten Westen Polens – oder eben auf der anderen Seite der Oder, im östlichsten Zipfel Brandenburgs.
Als Ernst Herzog mich und meinen Freund Hilmar Schulz, der als Journalist auch schon bei der Kulturbrücke mitgearbeitet hatte, Ende 2019 auf seine Idee ansprach, ein Buch über die ehemalige jüdische Bevölkerung in dieser Gegend zu machen, war ich Feuer und Flamme. Denn mit Spurensuche hatte ich mich ja vorher schon beschäftigt.
Aber mir war auch klar, dass ich es immer wieder mit dem Nicht-mehr- Vorhandensein jüdischen Lebens zu tun haben würde.
Eigentlich war geplant, unser Buch innerhalb eines Jahres, nämlich 2020, abzuschließen, aber dann kam die Pandemie. Monatelang war es nicht möglich, an die Orte zu fahren, wo wir Spuren vermuteten. In dieser Zeit haben wir sehr viel recherchiert, mit Museen und Universitätsprojekten gesprochen und Massen von Material zusammengetragen.
Diese eingehende Recherche hat vollkommen deutlich gemacht, dass es kaum noch etwas zu sehen gibt. Deshalb war es wichtig, sich eigene Fragen zu stellen, detektivisch vorzugehen, rechts und links zu schauen und mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Sich einzulassen. Und wenn ich dann etwas finden, sehen und fotografieren konnte, von dem wir vielleicht zuvor noch nichts gewusst hatten, war das tatsächlich eine Freude.
Es war ein irrer Widerspruch: Leerstellen und Verlust – auch Gewalt – so darzustellen, dass sie nicht abschrecken oder zutiefst deprimieren. Ich habe das als meine Aufgabe gesehen und immer wieder versucht, die Arbeit in nüchterne Einzelteile zu zerlegen: die Fakten, die Orte, das Licht, die Perspektive, ja: auch die Schönheit.
Was prägte Sie in Ihrem Schaffen und speziell bei diesem Projekt, welche Vorbilder oder Energiequellen halfen Ihnen auf Ihrem Weg?W
Die fantastische Filmemacherin und Fotografin Agnes Varda hat gesagt, in ihrer Arbeit, ihren Werken gäbe es immer drei Phasen: Inspiration, Kreation, Teilen.
Das hat mich, ohne dass ich es wusste, schon sehr lange begleitet. Seit ich davon weiß und während ich an den Spuren gearbeitet habe, ist es fast wie eine magische Formel, die ich mir immer wieder aufschrieb und vorsagte. Es justiert meinen Kopf, entlastet mich von Grübeleien und nebulösen Ansprüchen.
Eine weitere Energiequelle ist komischerweise wirklich dieses Sich-Versenken, von dem ich sprach: zur Detektivin werden, selbst etwas Neues finden, was dann auch einem schweren Thema wie diesem etwas Lebendiges verleiht.
Gibt es Ziele oder Projekte, die Sie zukünftig für sich als wegweisend betrachten?
Ein halbes Jahr vor dem Abgabetermin kam Florian Reckert dazu, der das Buch gestaltet und ihm ein wirklich eigenes Gesicht gegeben hat. Die sehr enge Zusammenarbeit zwischen Autor, Gestalter und Fotografin habe ich sehr genossen; dadurch entstand etwas Neues. Das war so produktiv und schön zu erleben, dass ich gerne wieder so arbeiten würde.
Noch bin ich aber mitten in der dritten Varda-Phase: Teilen.
Wen und was möchten Sie mit diesem Buch erreichen?
Die Bilder und Geschichten vermitteln am Beispiel einer Region sehr deutlich, welchen unfassbaren Verlust Europa durch die Shoa erlitten hat. Und das nicht auf wissenschaftliche oder abstrakte Weise, sondern ganz konkret, denn wir besuchen mit den Lesern bestimmte Orte und stoßen dort auf Menschen und Kultur – auf etwas, das zu uns gehört und uns fehlt.
Ich hoffe, wir können so zeigen, was war und was ist. Aber das Buch bietet auch viele anschauliche Informationen, so gibt es im Anhang Erklärungen von Symbolen auf jüdischen Grabsteinen. Es heißt, man sehe nur, was man weiß, und man kann so auf Friedhöfen sehr viel lesen und erfahren.
Ich wünsche mir einfach, dass möglichst viele Leserinnen und Leser auch außerhalb "unserer" Region angeregt werden und an dieser Entdeckungsreise teilnehmen.
Das Gespräch führte Katja Zundel für Köln-InSight.TV
Weitere Informationen finden Sie unter: http://spurenjuedischenlebens.de/
Buchpräsentation am 25. Oktober 2022 in Berlin: http://www.mendelssohn-remise.de/
Kloster Altfriedland: https://www.kultur-altfriedland.de/
https://www.kulturbruecke.eu/
http://www.yvettethormann.de/
Fotos © Yvette Thormann