Ich bin`s dein Nachbar...Marie Karsten
Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde im Oktober 2010 veröffentlicht. Die Aussagen von Marie Karsten und der Eindruck, den sie vermittelte, spiegelt nicht das wieder, was wir nachfolgend an Erfahrungen mit ihr sammelten. Nach kurzer Zusammenarbeit, haben wir uns von ihrer Person distanziert.
Ich bin auf Marie Karsten aufmerksam geworden, weil sie Ideen für sinnvolle Projekte mit nach Mülheim brachte. Ich begegnete einer ehrlichen, intelligenten Frau, der ihre Mitmenschen am Herzen liegen. Durch konkrete Hilfe, durch Denkanstöße und über juristische Wege möchte Marie Karsten etwas in unserer Gesellschaft bewegen. Damit es besser wird. Marie lebte lange Zeit in männlicher Sozialisierung, bis sie den Entschluss fasste, sich selbst zu leben. Ich habe Marie Karsten besucht und mit ihr ein Gespräch geführt.
Kurz gesagt:
Ein guter Tag beginnt für mich, wenn...
...mein Mensch und unsere Dogge mich lächelnd anschauen !
2. Ich komme ursprünglich aus...
…der Nähe von Gütersloh, fast mittig zwischen Bielefeld und Paderborn.
3. Ich bin nach Mülheim gekommen, weil...
…es noch bezahlbar ist, vielfältig, bunt, interkulturell und der Kulturbunker hat eine große Rolle gespielt.
4. Mein liebster Fleck in Mülheim ist...
…das Rheinufer Richtung Bayer-Werk.
5. Drei Worte, die meinen Charakter beschreiben...
…anstrengend, weil fordernd und gerecht.
6. Ich mag es gern,...
…wenn Menschen ohne Dünkel und Vorurteile auf einander zugehen. Arroganz ist die Dummheit der Ignoranten.
7. Ich mag nicht gern,...
…mich immer wieder erklären zu müssen.
8. Ich lese zur Zeit das Buch...
...Kamina: „Karaoke“, Karen.Susan Fessel: „Bis ich Sie finde“
9. Dieses Erlebnis vergesse ich nie...
…die Geburt meiner Tochter und meine zweite Geburt.
10. Auf eine einsame Insel nehme ich mit...
…nichts und niemand, alles Neue sollte unbelastet beginnen.
11. Als Kind wollte ich...
…mich endlich finden.
12. Glück bedeutet...
…sich an die wenigen Augenblicke des „Glücklich sein's“ erinnern zu können.
Hallo Marie, du lebst seit Mai 2010 hier in Köln-Mülheim. Was waren die Motive, die dich bewegt haben, hierher zu ziehen?
Gründe waren die ethnische Vielfalt, natürlich die Kosten, die Rheinlage und auch die bürgernahe, kulturelle Perspektive. Ich war vorher in der ganzen Bundesrepublik unterwegs. Nun komme ich nach Jahren intensiver, persönlich finanzierter, sozialer Arbeit endlich zur Ruhe.
Warum hast du deine Einstellung zu deinem sozialen Wirken geändert?
Wenn du über Jahre mit inzestös missbrauchten Kindern arbeitest, dann verschwindest du irgendwann in diesem Abgrund. Denn du schaust jeden Tag hinein. Du hast jeden Tag, ob du es willst oder nicht, zumindest die Vorstellung, dass der Täter dich auch freundlich begrüßen würde. Es war mir wichtig, davon ein wenig Abstand zu gewinnen, denn ich habe nicht mehr mein eigenes Leben geführt. Ich kann nicht über Jahre das Leben anderer Menschen führen.
Ein weiteres wichtiges Themenfeld für dich ist die „Homophobie im Fußball“. Du warst lange Zeit selbst Schiedsrichter und Schiedsrichterin, wurdest vom Deutschen Fußball Bund nach der geschlechtlichen Anpassung nur widerwillig angenommen und hast diese Tätigkeit weiter ausgeführt. Wie siehst du diese Arbeit heute?
Das Thema wird mich wohl nie ganz loslassen. Ich war jahrelang im Fußball aktiv, wenn es um Homophobie ging. Ich sehe aber nicht mehr ein, dass ich jemandem der Millionen verdient das Seelchen streichele, wenn es ihm mal wieder schlecht geht mit seiner Lebenslüge. Weil er sich nicht outen kann. Es soll ja keiner merken, dass sie schwul sind. Bis zu 17 Menschen habe ich in der Spitze von ihnen betreut. Es geht hierbei nicht um den Verband. Der DFB hat mich, wenn auch widerwillig, akzeptiert, ich habe es ihnen also vorgelebt.
Zusätzlich hast du über viele Jahre medizinische und chirurgische Maßnahmen für Transidente und Intersexuelle besorgt. Bei all dieser Arbeit, war es dir wichtig unabhängig zu bleiben. Warum?
Ich könnte heutzutage in meinem Internet-Blog nicht so schreiben, wenn ich irgendwelchen Verbänden und Organisationen angehören würde. Ich hasse es wie die Pest politisch korrekte Äußerungen zu machen, die an der Sache vorbei gehen und den Kern nicht treffen. „Political Correctness“ ist vorsätzliche Lüge und Euphemismus in Reinkultur. Authentisch sein, das kannst du in Verbandsarbeit nicht. Dort bist du immer irgendwelchen übergeordneten Menschen und deren Zielen unterworfen. Es wird auch gesagt, das würde nicht meinem Naturell entsprechen. Nicht umsonst wurde von Politikern behauptet ich sei eine Dreckschleuder. Von daher kommt auch der Name für meinen Blog. www.dreckschleuder.info/blog
Du schreibst über Themen, die dir am Herzen liegen. Dabei bist du bissig und ehrlich. Wie bist du zum Schreiben gekommen?
Nun, lesen und schreiben war für mich seit Kindheit an überlebenswichtig. Es war der kreative Schutzraum, indem ich mein eigenes Leben träumen und diesen Traum genießen konnte.
Es war für mich als Kind der einzige Weg mit den Üblichkeiten klar zu kommen. Man darf nicht vergessen, dass ich als ein, durch Ärzte nach der Geburt verkrüppeltes intersexuelles Kind, mit einer männlichen Sozialisierung, die mir angedeihen sollte, überhaupt nicht klar gekommen bin. Ich bin geboren mit beiden vollständig ausgebildeten Geschlechtern. Man hat mich nach der Geburt einfach zugenäht. Wie es heute zum Teil immer noch getan wird. Dazu kommt inzestöser Kindesmissbrauch durch den eigenen Vater bis zum 11. Lebensjahr.
Niemand spricht darüber, schon gar nicht in der erzkatholischen Provinz Ostwestfalens. Was hast du getan?
Du musst kompensieren, wenn du nicht zu Grunde gehen willst. Damals hatte ich nur die Möglichkeit Suizid oder die Beschäftigung mit dem Kopf. So habe ich an meinem Intellekt und meiner Bildung gearbeitet, ohne es selbst zu merken. Ich habe gelesen und geschrieben, mein ganzes Leben lang. Ich hatte mit neun Jahren sämtliche Bände von Karl May gelesen. Mit 13 Jahren die ersten dreißig Buchkommentare des „Kapital“ von Karl Marx.
Ich lebte immer in der Hoffnung, dass sich etwas verändern wird. Das mein Leben dann doch aus einer fast 5 Jahrzehnte dauernden Lebenslüge mit Alptraumgarantie bestand, ist einer der Gründe für die „Dreckschleuder“ und alle Blog's davor, daneben und danach.
Was sind Themen, die du in deinem Blog behandelst?
Auch heute noch werden intersexuelle Kinder eines Geschlechtes beraubt, daher ist dies Teil meiner heutigen politischen Arbeit. Die Gesetzgebung ist hier zum Teil sehr faschistoid, rassistisch und eugenisch.
Mir geht es überhaupt um den täglichen Faschismus, Behördenterror und die unsägliche Arroganz und Ignoranz politischer wie klerikaler Meinungsträger. Der Alltägliche Irrsinn ist es, was mir so ein klein wenig die „Unruh“ am laufen hält. Ein Zitat von Rosa Luxemburg trifft es wohl am besten: „Kein Mensch hat das Recht gehorsam zu sein“.
Es ist nicht der erste Blog, den ich betreibe. Ich hoffe es ist der letzte. Momentan wird www.dreckschleuder.info/blog in Bezug auf den literarischen Anteil erweitert.
Mit Hilfe deines Blog möchtest du den Menschen in Mülheim ein Einzugsgeschenk bereiten. Worum handelt es sich hierbei?
Ich habe hier ein Forum eingerichtet und möchte gern einen lokalen Bezug hier zu Mülheim darin herstellen. Das heißt, es kann lokal gefüttert werden. Ich freue mich, wenn die Menschen es benutzen, um zum Beispiel über Probleme mit Behörden zu sprechen. Diese Plattform kann genutzt werden, um sich einmal in einem größeren Kreis darzustellen oder sich auch untereinander über Inhalte auszutauschen. Die Leute können es ebenfalls als Veranstaltungskalender zu kulturellen und interkulturellen Aktivitäten nutzen, was ich sehr begrüßen würde.
Das ist eine schöne Idee. Wie läuft die Nutzung ab?
Ich achte darauf, dass die Themen keine Persönlichkeitsrechte verletzen, nicht diffamierend und diskriminierend sind. Dann kann jeder Themenvorschläge machen. Wer eine Idee hat, braucht einfach eine kleine E-Mail schreiben, worum es sich handelt und muss sich registrieren. Dann schalte ich einen Account frei und derjenige kann diesen Bereich eigenverantwortlich moderieren. Da ich viele neofaschistische Angriffe gegen den Blog und meine Person habe, möchte ich einfach vorher nur kurz wissen, worum es geht.
Welcher Gedanke steckt hinter dem Forum?
Ich möchte den Menschen die Chance geben, zu sagen, was sie denken und fühlen. Nur wenn wir reden, schaffen wir eine Plattform. Dabei zwingen wir die, die uns behindern dazu uns zu zuhören. Anders funktioniert das nicht. Es ist eine klare offene Einladung, benutzt es, geht drauf.
Das Forum ist nicht das einzige Geschenk, was du nach Mülheim bringst. So planst du verschiedene Veranstaltungen. Die erste findet am 22.10.2010 im Cafe BUNKERS statt. Worum geht es dabei?
Es wird eine interaktive Lesung sein. Ich lese hier aus Texten von Wladimir Kamina, Erich Fried und bisher unveröffentlichten eigenen Manuskripten. Die Lesung steht unter dem Motto "Normal oder üblich, was ist schlimmer?". Ich behandle eigene Themen zu meiner langjährigen Arbeit mit Transgendern und aus dem Bereich Homophobie im Leistungssport. Ich möchte zum Nachdenken anregen. Dabei ist mir der Austausch mit dem Publikum wichtig, was es schließlich zu einer interaktiven Lesung macht.
Den Austausch mit dem Publikum wirst du bei einem weiteren Format, mit einer neuen Form der Talk-Runde, unter dem Titel „Que(e)r sind Wir“ intensivieren. Dies ist ein neues Projekt von dir und wird im November in der Galerie-Graf-Adolf starten. Was können wir uns darunter vorstellen?
Der Titel ist Programm. Que(e)r, in Lautsprache KWIR(R), beschreibt für viele das Andere, alles was nicht normal ist. Es geht darum in Frage zu stellen. Alles Übliche und alles was als normal betrachtet wird. Inhalt werden die Themen und Beobachtungen des Alltags sein. Hinterfragt wird mit Lyrik, Literatur und der Realität. Dies entspricht dann auch meinen eigenen Manuskripten aus den Jahren der Willkür und erlebten Diskriminierung.
Was möchtest du damit erreichen, das „normale“ in Frage zu stellen?
Die gesamte Gender, Schwul und Lesbenszene wird als Queer World bezeichnet. Die „normale“ Menschheit hat sich eine Nische für diese Menschen geschaffen, und die sind halt queer. Wobei ich mir immer wieder die Frage stelle, was ist normal? Ist Normalität eine Folge der Üblichkeit? Üblichkeit ist nicht menschengerecht. Das ist eine Fessel, die wir haben. Wir leben einfach nicht das, was wir sind. Deswegen laufen ja, meiner Ansicht nach, so viele traumatisierte Menschen da draußen ziellos durch die Welt. Ergebnisse aus den USA haben unter anderem gezeigt, es leben mind. 40 % inzestös missbrauchter Kinder in allen Industrienationen. Das ist üblich, nur ist das auch normal?
Das Besondere an der Veranstaltung werden nicht nur die Themen sein, sondern das Format an sich. Wie läuft die Talk-Runde ab?
Der Ablauf ist recht einfach, es wird durch gelesene Lyrik und Literatur moderiert. Moderiert werden die, welche glauben etwas sagen zu müssen, oder etwas sagen zu können. Das bedeutet konkret, die Talk – Gäste werden mitten in das Publikum gesetzt. „Auge in Auge“, nicht entrückt auf einem Podium, nicht in einem geschützten Raum. So soll es möglich sein, dass die Zuschauer fragen und unmittelbare Antworten erwarten können. Also kein „politisch korrektes“ Geschwafel, sondern unmittelbarer Kontakt zum Bürger und provokante, kulturell angereicherte Moderation.
Wie bist du auf die Idee hierzu gekommen?
Initial dafür war der „HURZ“. HaPe Kerkeling hatte mir Ende der 80'er Jahre eine Steilvorlage, aber auch eine richtige Aufgabe damit gestellt. Wichtig und entscheidend für mich, sind Reaktionen und Interaktionen aller Beteiligten, egal in welchen Feldern des täglichen Miteinanders auch immer. Das Verhalten des Publikums und die zum Teil doch sehr empfindlichen Reaktionen haben mich immer wieder über ein umsetzbares Talk-Format nachdenken lassen.
Was möchtest du bei den potentiellen Gästen damit erreichen?
Ich habe irgendwann in meinem Berufsleben gelernt, verpass den Leuten eine Krise damit sie motivierbar sind. Dann fangen sie an zu denken. Ich denke, das ist eine Krise, sich einer völlig neuen Situation ausgesetzt zu sehen. Einer unmittelbaren 1:1 Situation. Was bei den üblichen Formaten nicht der Fall ist. Diese Leute sind immer in einem geschützten Raum, sie sitzen auf einem Podium. Sie können in sich kreisen. Sie können mit allen Respektlosigkeiten und Taktlosigkeiten aufwarten, die ihnen inne wohnen.
Was ist das Thema der ersten Talk-Runde von „Que(e)r sind Wir“?
Die erste Veranstaltung wird Texte von Wladimir Kamina, Lyrik von Erich Fried und Manuskriptauszüge zu Feminismus und Geschlechterbildern, deren unterschiedlichen Wunschbildern, enthalten. Letztere sind dann von mir.
Wir sind gespannt und neugierig darauf. Was wäre, wenn du die Macht hättest, die Welt nach deinen Wünschen zu gestalten, wie sähe sie dann aus?
Respektvoller, menschlicher, partnerschaftlicher. Frei von ethnischen, religiösen und geschlechterorientierten Hierarchien.
Was glaubst du, können Menschen aktuell in ihrem Alltag tun, um die Welt positiv zu beeinflussen?
Zuhören, einfach nur zuhören. Erst denken wenn der oder die andere ausgesprochen hat. Dann den eigenen Kopf bemühen und reden. Wir lassen sooft den anderen nicht ausreden und während er spricht, geben wir bereits Antworten welche mit seinen Gedanken nichts zu tun haben. Und wieder haben wir ihn nicht respektiert, ihm nicht ZUGEHÖRT, nicht verstanden. Aber geantwortet haben wir, ohne zu wissen worauf.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Das habe ich in der vorhergehenden Frage beantwortet. Respekt schafft Akzeptanz und Toleranz. Ich habe einmal einen Artikel mit folgenden Worten begonnen:
Meine Nachbarn sind
Migranten,
Muslime,
Lesben,
Schwule,
auch Deutsche,
was auch immer das ist?
Aber eines sind sie immer,
MENSCHEN
bessere, hatte ich nie.
Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei deiner Arbeit und deinen Aktivitäten!
Ilka Baum
Interview in PDF: Mülheimer Stimmen - Ich bin`s dein Nachbar...Marie Karsten
Informationen zu Marie Karsten: www.dreckschleuder.info/blog